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Es gibt keine Wirklichkeit – nur unsere menschliche Ordnung, die wir allem aufgeprägt haben.
Diktum der Bene Gesserit
Für Jessica war es wie ein Versteckspiel ... nur dass es todernst war.
Hunderte von Schwestern huschten wie Fledermäuse durch den Speisesaal und verfolgten belustigt die Possen des Barons. Sie wichen ihm aus, als würden sie Blinde Kuh mit ihm spielen. Einige hatten sich unter Tische gekauert, Jessica und Mohiam drückten sich an eine Wand. Alle Frauen wandten die Technik des lautlosen Atmens an und konzentrierten sich auf die Illusion. Niemand sprach ein Wort.
Sie befanden sich im Sichtfeld der Harkonnens, die sie trotzdem nicht wahrnahmen. Der Baron sah nur, was die Bene Gesserit ihn sehen ließen.
Mitten auf dem großen Esstisch stand die alte Mutter Oberin und lächelte wie ein Schulmädchen, dem ein genialer Streich gelungen war. Harishka verschränkte die dünnen Ärmchen über der Brust, als die Wachen und der Baron immer verärgerter reagierten.
Ein Soldat bewegte sich im Abstand von wenigen Zentimetern an Jessica vorbei. Er schwenkte seinen Scanner und hätte damit beinahe ihr Gesicht berührt. Aber der Mann bemerkte nichts. Die Anzeigen schlugen heftig blinkend aus, als der Soldat an den Frauen vorbeikam – doch er sah die Ausschläge nicht. Instrumente ließen sich nicht ohne weiteres täuschen – aber Menschen.
Das Leben ist eine Illusion, die auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist, dachte sie. Diese Weisheit hatte sie von Mohiam gelernt. Jede Schülerin wusste, wie man das Auge täuschen konnte, den wichtigsten der menschlichen Sinne. Die Schwestern verursachten kaum wahrnehmbare Geräusche und verschleierten ihre leichten Bewegungen.
Als sie erfahren hatte, dass der arrogante Baron unterwegs war, hatte die Mutter Oberin die Schwestern in den großen Speisesaal gerufen. »Baron Harkonnen glaubt, alles unter Kontrolle zu haben«, hatte sie mit ihrer krächzenden Stimme gesagt. »Er glaubt, er kann uns Angst machen, aber wir werden ihm seine Kraft rauben, ihm das Gefühl der Machtlosigkeit geben.«
»Außerdem gewinnen wir genügend Zeit, um über diese Angelegenheit nachzudenken ... und dem Baron geben wir genügend Zeit, um Fehler zu machen. Die Harkonnens sind nicht für ihre Geduld bekannt.«
Auf der anderen Seite des Raums wäre der tapsige Baron beinahe mit Schwester Cristane zusammengestoßen, die ihm lautlos auswich.
»Was, zur Hölle, war das?« Er wirbelte herum, als er eine Luftbewegung und einen schwachen Textilgeruch wahrnahm. »Ich habe ein Rascheln gehört, wie von einem Gewand.« Die Wachen hoben die Waffen, aber sie sahen nichts, worauf sie hätten feuern können. Der korpulente Mann erschauderte.
Jessica blickte ihre Lehrerin lächelnd an. Die normalerweise ausdruckslosen Augen der Ehrwürdigen Mutter funkelten vor Schadenfreude. Von ihrem erhöhten Standort aus blickte die Mutter Oberin wie ein Raubvogel auf die verwirrten Männer.
In der Vorbereitungsphase der Massenhypnose, in deren Bann der Baron und seine Männer nun standen, hatte Schwester Cristane zugelassen, dass sie sichtbar blieb, damit sie sie in die Falle tappen lassen konnte. Doch dann war die Führerin allmählich aus ihrem Blickfeld verschwunden, während sich die Schwestern auf ihre Opfer konzentrierten.
Der Baron kam humpelnd näher. Sein Gesicht war eine Fratze unbeherrschter Wut. Jessica hätte die Gelegenheit gehabt, ihm ein Bein zu stellen, aber sie tat es nicht.
Mohiam glitt an seine Seite und sagte mit leisem und unheimlichem Flüstern: »Du sollst dich fürchten, Baron!« Ihre Stimme drang ausschließlich an die Ohren des fetten Mannes, den sie so sehr verachtete. Mit kaum wahrnehmbarem Säuseln verdrehte sie die Worte der Litanei gegen die Furcht zu etwas völlig anderem:
»Du sollst dich fürchten. Die Furcht tötet das Bewußtsein. Die Furcht führt zu völliger Zerstörung.« Sie ging um ihn herum und sprach ihn nun von hinten an. »Du kannst deiner Furcht nicht ins Gesicht sehen. Sie soll dich völlig durchdringen und infizieren.«
Er schlug mit den Händen um sich, als wollte er ein lästiges Insekt vertreiben. Sein Gesicht zeigte tiefe Bestürzung. »Und wenn die Furcht dich durchdrungen hat, wird nichts von dir zurückbleiben.« Langsam entfernte sich Mohiam von ihm. »Nur die Schwestern werden bleiben.«
Der Baron blieb wie angewurzelt stehen. Sein Gesicht war leichenblass, seine Wangen zuckten. Seine schwarzen Augen blickten nach links, wo Mohiam noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte. Er schlug mit seinem Gehstock in diese Richtung, so heftig, dass er das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging.
»Bringt mich hier raus!«, brüllte er seine Männer an.
Zwei Wachen eilten herbei, um ihm aufzuhelfen. Der Anführer des Trupps brachte ihn zum Haupteingang und nach draußen, während die übrigen zwei Wachen die stumpfen Läufe ihrer Lasguns schwenkten und nach Zielen suchten.
An der Schwelle hielt der Baron zögernd inne. »Verdammte Hexen!« Er blickte sich um. »In welche Richtung?«
»Nach rechts, Baron«, sagte der Anführer mit fester Stimme. Ohne dass er etwas davon bemerkte, hielt sich Cristane in seiner Nähe und flüsterte ihm Anweisungen ins Ohr. Wenn sie das Shuttle erreicht hatten, würde der Autopilot reagieren und den Baron durch das komplexe Verteidigungssystem des Planeten zu seiner Fregatte im Orbit zurückbringen.
Erfolglos, frustriert, hilflos. So etwas war der Baron nicht gewöhnt. »Sie werden es nicht wagen, mir etwas anzutun«, murmelte er.
Mehrere Schwestern in seiner Nähe kicherten.
Als die Harkonnens wie Gaze-Hunde mit eingeklemmtem Schwanz flohen, folgte ihnen geisterhaftes Gelächter aus dem Speisesaal.